Türkei: die Revolution des Volkes

Laurène Perrussel-Morin, übersetzt von Yann Schreiber
14 Juin 2013



„Occupy Gezi Istanbul“ – so lautet der Name jener Bewegung, die zu den stark unterdrückten Protesten des 31. Mai geführt hat. Eine Bewegung, die den autoritären Charakter eines immer stärker kritisierten Regimes unterstreicht. Autoritarismus und Polizeigewalt – ist eine Revolution im Gange?


Foto, von Laurène Perrussel-Morin
Foto, von Laurène Perrussel-Morin
Istanbul, 31. Mai 2013. Ein Demonstrant liest den Polizisten, die auf der Istiklal Caddesi, einer Straße des modernen Stadtzentrums, blind die Menschenmenge angreifen, die Türkische Verfassung vor. Wenige Augenblicke zuvor wurde er als einer von 10 000 Demonstranten von eben diesen Gesetzeshütern mit Tränengas angegriffen. Die „Occupy Gezi Park“-Bewegung, die ursprünglich den Taksim Park schützen wollte, hat mittlerweile weitreichendere Ziele.

Gezielte Polizeigewalt

Regelmäßig kommt es in Istanbul zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen. Schon am 1. Mai wurde ihnen aufgrund jener Bauarbeiten, die heute Anlass gewaltsamer Proteste sind, der Zugang zum Taksim Platz verweigert. Bei den darauffolgenden Demonstrationen kam es zu ersten Zusammenstößen. In den letzten Tagen vor dem 31. Mai versuchte die Polizei – vom Morgengrauen an und jedes Mal gewaltsamer – die Camps der Demonstranten aufzulösen, die sich im Gezi Park zum Schutz der 600, durch Bauarbeiten bedrohten, Bäume gebildet haben.
Während der Zusammenstöße des 31. Mai kam es bei vielen Demonstranten zu Bruchverletzungen und durch das freigesetzte Tränengas bedingte Atembeschwerden. Unter den Opfern war auch Sırrı Süreyya Önder, Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei CHP (kemalistisch): Er wurde an der Schulter von einer Tränengasbombe verletzt und ins Krankenhaus gebracht. Ein an erhöhtem Blutdruck leidender Demonstrant starb an einem Herzinfarkt, nachdem er ebenfalls Tränengas ausgesetzt war.
Die Mobilisierung in den sozialen Netzwerken war groß. Gegen Abend erreichten die Unruhen auch die Hauptstadt Ankara und die Stadt Izmir.

Laizismus in Gefahr

Die Proteste fügen sich in einen gespannten politischen Kontext. Bürgerrechte werden immer weiter beschnitten. Das Parlament verabschiedete am 24. Mai ein Gesetz, das den Verkauf von Alkohol sowie Werbung für alkoholische Getränke verbietet. Viele sehen darin eine Gefährdung des Laizismus, Fundament der türkischen Republik. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan verteidigte das Gesetz im Namen der Volksgesundheit, wenngleich eine Studie des türkischen Instituts für Statistik (Turk-Stat) zeigte, dass 85% der Bevölkerung keinen Alkohol konsumieren.
Schon im Februar 2012 offenbarte Erdoğan, eine „religiöse Jugend“ mit Berufung auf die „Werte und Prinzipien der Nation“ begründen zu wollen. Auf die damals aufgetretene Kritik antwortete er energisch: „Erwarten Sie von der konservativen, demokratischen AKP, dass sie eine Generation Atheisten begründet? Das ist vielleicht Ihr Ziel, nicht unseres. Sie wollen keine religiöse Jugend – stattdessen wollen Sie eine drogenkranke?“

Mundtote Gegenmächte

Foto, von Laurène Perrussel-Morin
Foto, von Laurène Perrussel-Morin
Die Armee, traditionell Wächterin des Laizismus in der Türkei, ist seit etwa zehn Jahren durch die Ergenokon Affäre, ein kriminelles Netzwerk, das 2003 angeblich die AKP stürzen wollte, geschwächt. Einige türkische politische Bewegungen, darunter die CHP, meinen, diese Affäre sei nur ein Vorwand gewesen, um die Armee als traditionelle Bastion gegen die Islamisierung zum Schweigen zu bringen. Diese Maßnahmen sind für die Opposition ein fester Bestandteil ihrer „geheimen Agenda.“ In einer Wahlkampfrede zu den Parlamentswahlen 2011 prangerte die CHP einen Plan der AKP Erdoğans an, wonach er nach den Wahlen ein Machtmonopol bilden könnte.
Die Pressefreiheit, ist in der Türkei eine Utopie. Regelmäßig kommt es zu Angriffen und Gewalt gegen Journalisten, die über die Demonstrationen berichten. Die Organisation Reporter ohne Grenzen spricht von „gezielten Angriffen.“ Schon am ersten Tag der Demonstrationen wurde ein Kameramann am Kopf verletzt. Am 31. Mai wurde dann wiederum der unabhängige Journalist Ahmet Sik von einer Tränengasgranate getroffen. Zeugen versichern, dass das Geschoß, geworfen aus ca. zehn Metern Entfernung, den Journalisten als Ziel hatte.
Die Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums, Jennifer Psaki, sagte in einer Pressekonferenz: „Wir sind aufgrund der Zahl der Menschen, die verletzt wurden, als die Polizei die Demonstration in Instanbuls Gezi Park aufgelöst hat, besorgt“ und rief Ankara dazu auf, die „fundamentale Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, wie sie diese Menschen auszuüben schienen“, zu respektieren.
Erdoğan, praktizierender Muslim, der weder trinkt noch raucht, versteht sich selbst als „demokratischer Konservativer“, oder auch als „demokratischer Muslim“, als Anspielung auf die christlichen Demokraten, denen er nahe steht. Seit die AKP 2002 an die Macht kam, verdreifachte sich das Einkommen per Kapita. Die Partei bleibt in den konservativen Teilen der Bevölkerung sehr beliebt und behält jede Chance, nächstes Jahr wiedergewählt zu werden.

Notez