Istanbul, das erwachen der türkischen zivilgesellschaft

LOU BACHELIER-DEGRAS, KORRESPONDENTIN IN ISTANBUL
1 Juillet 2013



In der Türkei laufen die Demonstrationen auf Hochtouren. Es scheint, als würden sich Türken allen Alters gegen eine politische Macht, die sie von Entscheidungen ausschließt, verbünden. Wie kann man derartige Reaktionen in einem so florierenden Staat erklären? Das Journal International analysiert.


Demonstranten fliehen vor dem Tränengasnebel (Istiklal Avenue) © Lou Bachelier-Degras
Demonstranten fliehen vor dem Tränengasnebel (Istiklal Avenue) © Lou Bachelier-Degras
In den letzten zehn Jahren hat die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durch Premier R. T. Erdogan eine Politik betrieben, die Ankara eine entscheidende Vermittlerrolle im Nahen Osten zurückgegeben hat. Der Staat war ein Vorbild für die Bevölkerung anderer arabischer Staaten, die sich gegen ihre Despoten erhoben hatten. Die Türkei ist nicht mit der Mehrheit der arabischen Staaten vergleichbar. Die Türkei ist seit mehr als fünfzig Jahren eine Demokratie mit freien und pluralistischen Wahlen. Der Staat rühmt sich auch für seine kulturelle Vielfältigkeit.
Darüber hinaus hat sich das türkische Pro-Kopf-Einkommen im letzten Jahrzehnt verdreifacht und die Wachstumsrate ist, nach China, die zweitgrößte der Welt. Wie kommt es, dass dieses führende Land des Nahen Ostens von einer spontanen und beispiellosen Protestwelle erschüttert wird? 

EIN TÜRKISCHER FRÜHLING ?

Auch wenn er 2011 mit fast 50 % der Stimmen wiedergewählt wurde, kristallisiert Erdogan den Ärger eines Teils der türkischen Bevölkerung heraus. Der starke Mann der Regierung hat landesweit eine Reihe von breit angelegten Modernisierungsbauprojekten für die Jahrhundertfeier der Republik 2023 durchgeführt. Seine Regierungsart ist aber autoritär und unnachgiebig geworden. Die AKP verfügt mit 327 der 548 Sitze über die absolute Mehrheit im Parlament und kann damit alle Gesetze verabschieden.
 
So wurde das Stadtentwicklungsvorhaben für Istanbul entschieden. Im Herzen der türkischen Megalopolis hat der ehemalige Bürgermeister entschieden, einen öffentlichen Park abzureißen, der an den Taksim-Platz, einen der größten, meist begangenen und symbolischsten Plätze der Türkei, angrenzt. Dieser 1940 vom Stadtplaner Henri Prost gezeichnete Park mit 700 Bäumen wurde auf abgerissenen osmanischen Kasernen erbaut. Erdogan plant den Nachbau dieser osmanischen Kaserne als Einkaufs- und Kulturzentrum, obwohl es schon mehrere Einkaufszentren und Läden auf der Istiklal Einkaufsstraße gibt, die jeden Tag von einer Million Menschen besucht wird. Außerdem wird der Taksim-Platz im Norden durch ein Denkmal für die säkulare Republik, wie sie von dem ersten Präsident, Mustafa Kemal Atatürk, gewünscht wurde, begrenzt: Das Atatürk Kulturzentrum ist eine moderne Oper und ein Tempel für eine säkulare, westlichen Kultur.

die ereignisse VOM 31. MAI UND 1. JUNI

Eines der im Gezi-Park installierten Zelte © Lou Bachelier-Degras
Eines der im Gezi-Park installierten Zelte © Lou Bachelier-Degras
Wegen der drohenden Zerstörung des Parks haben Umweltschutzaktivisten beschlossen, den Gezi-Park friedlich zu besetzen. Darunter ist auch Alkim, ein junger Kommunikationsstudent, der seit Mittwoch, dem 29. Mai, den Park besetzt. Seiner Meinung nach sei die Entscheidung, die Bäume abzuholzen, gesetzeswidrig. Er erinnert sich: „Die Stimmung im Park war festlich, es gab auch Musik… Wir haben die Polizeigewalt nicht verstanden.“ Am Freitag den 31. Mai wurden die wenigen Besetzer des Parks in der Morgendämmerung mit Tränengas und Wasserwerfern von der Polizei, die beauftragt wurde, den Park zu evakuieren, damit die Arbeiten anfangen konnten, vertrieben. Die Polizei verbrannte Zelte, Musikinstrumente und andere am Ort liegende Gegenstände.
 
Die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten hat die Proteste hervorgerufen. Erst Hunderte, dann Tausende Jugendliche sind zum Taksim-Platz geströmt, der von Spezialeinsatzkräften der Polizei überwacht wurde. Gegen 15 Uhr wurde die Umgebung des Parks von Polizisten besetzt, blieb jedoch weiter zugänglich. Immer wieder platzten einige Tränengaspatronen.
 
Es ist das Bild eines neuralgischen Punktes des Istanbuler Busnetzes, der täglich von tausenden Studenten, Arbeitern und Touristen geflutet wird, und der in wenigen Minuten von der Polizei geräumt und mit Tränengas vollständig bedeckt wird.
 
Gegen 16 Uhr feuerte die Polizei, verstärkt durch mobile Wasserwerfer, Tränengas im Park und seiner Umgebung, so dass die angrenzenden Geschäfte die einzige Zuflucht für die wenigen noch verbliebenen Passanten waren. Die wenigen Touristen, die unglücklicherweise vorbei gekommen waren, rannten – das Gesicht vom Schmerz verzerrt –, um sich in den nächsten Geschäften und Hotels hinter geschlossenen Türen zu verstecken.
Die jungen Demonstranten, die die Polizei herausforderten oder die sich nicht ergeben wollten, wurden von Wasserwerfern auf die Istiklal Avenue gedrängt. Diese füllte sich mit tausenden Demonstranten, noch wären der Platz durch die Polizei geräumt wurde.
Die Zusammenstöße mit der Polizei in der Umgebung des Taksim-Platzes dauerten bis in die Nacht an. Um ein Uhr war die Istiklal Avenue leer; ohne Mundschutz war atmen jedoch  nahezu unmöglich. Nach einem weiteren Vormittag gewaltsamer Zusammenstöße zog sich die Polizei auf Befehl des Präsidenten Abdullah Gül im Laufe des Nachmittags vom Taksim-Platz zurück. 

Gezis gewissen?

Eine Bibliothek wurde im Gezi-Park gebaut © Lou Bachelier-Degras
Eine Bibliothek wurde im Gezi-Park gebaut © Lou Bachelier-Degras
Die Demonstrationen fingen in der ehemaligen ottomanischen Hauptstadt an und weiteten sich rasch auf andere Städte aus. Auch die als konservativ geltende politische Hauptstadt Ankara wurde erfasst. Innerhalb einer Woche gab es, nach Angeben des türkischen Ärztebundes, landesweit mehr als 4 355 verwundete sowie drei Tote. Das Innenministerium zählte mehr als 90 Demonstrationen.
 
Seitdem die Polizei am Samstag den Gezi-Park verlassen hat, sind der Taksim-Platz und die Grünfläche Orte libertärer Diskussionen geworden. Auch wenn die Istiklal Avenue am Samstagmorgen eher Bagdad im Jahr 2003 als den türkischen Champs Elysées ähndelt, blieben die Beschädigungen gering. Der Platz und der Park wurden durch Barrikaden geschützt, um die Rückkehr der Einsatzkräfte zu verhindern oder zu verlangsamen, so dass der auf der Spitze eines Hügels liegende Platz wie eine Festung aussah.
 
Alle Ausdrucksformen wurden mobilisiert: Street Art, Aufführungen, Versammlungen, Vereinszelte, kostenlose Konzerte, Verteilung von Flugblättern, der Bau einer Bibliothek mit Pflasterstein und spontane Gespräche im Park. Außer der gewaltsamen Zusammenstöße der ersten Tage in Istanbul und den darauf folgenden Tagem in anderen Teilen des Landes, beeindruckt im Gezi Park vor allem ein gewisses Gefühl der freudigen Freiheit. Einfache Fußgänger und Menschen aus allen Sparten der Gesellschaft und Altersstufen dieser westlichen und europäischen Türkei sind alleine im Gezi-Park.

Die TÜRKEN ALLER ALTER DEMONSTRIEREN UM FREIHEIT

Eine von den Lehrern der Universität Bilgi bei den Demonstranten durchgeführte Umfrage gibt die Hauptgründe der Demonstration: Für rund 92 % der Befragten ging es darum, gegen den Autoritarismus des Premiers zu kämpfen. Als zweiten Grund nannte 84 % der Befragten die von den türkischen Medien nicht berichtete Polizeigewalt. Schließlich ging es für 56 % um die Parkzerstörung. Von den 3 000 Befragten sind 64 % jünger als 30 Jahre, und 70 % der Befragten identifizieren sich nicht mit einer politischen Partei.
 
Wenngleich auf dem Taksim-Platz und Besiktas (das Istanbuler Büro von Erdogan) demonstrieren viele jungen Menschen aber in vielen mehr oder weniger konservativen Vierteln Istanbuls, unterstützen ältere Menschen seit einer Woche die Demonstranten, indem sie jeden Abend um 9 Uhr, mehr als eine Viertelstunde lang, Kochtöpfe aneinanderschlagen.
 
Fragt man die Demonstranten nach dem Grund ihrer Anwesenheit, ist die Antwort immer „Freiheit“. Für Hilay, eine Studentin aus Galatasaray, mischt sich Erdogan zu viel in das Privatleben der Bürger ein, indem er ihnen sagt, wie sie leben sollen oder ihre Lebensart in Frage stellt. Bezeichnend sind die Aussagen des Premiers, in denen er jeden, der Alkohol trinkt, als Alkoholiker bezeichnet, und eine Familie mit 3 Kindern preist. Dazu kommen seine anspruchsvollen Projekte gegen die Verhütung und die Abtreibung oder das kürzlich verabschiedete Gesetz, das den Verkauf von Alkohol verbiet.
 
Für Kadir, einen Studenten einer Ingenieursschule, sei nicht diese oder jene regierende Partei ausschlaggebend, sondern die Achtung der Bürger und die Notwendigkeit sich daran zu erinnern, dass ein Politiker nicht alles machen kann. Für ihn bezieht diese Bewegung ihre Stärke aus der einmaligen Vereinigung von Politikern, die damals Gegner waren, wie zum Beispiel Kemalisten und Kurden. Die Meinungsfreiheit sei für ihn das wichtigste. Er verweist dabei auf Äußerungen Erdogans, in denen der Premier behauptet, die Bevölkerung nicht zu Fragen zu haben und machen zu können, was er will. Gegen diese Idee demonstriert Kadir seit einer Woche – zum Leibwesen seiner Studien. Er will, so sagt er, den Dialog in die türkische Gesellschaft zurückbringen.

Diese Tausenden jungen Menschen kritisieren den Druck auf ihre Lebensart und den mangelnden Dialog zwischen den politischen Ebenen und der Zivilgesellschaft. Ihnen ist es lieber, Nahrung und Wasser an Fremde im Park zu verteilen, anstatt ihre Jahresabschlussprüfungen zu absolvieren. Seit dem Militärputsch 1980 haben die Vereins- und Kulturwelt an Bedeutung verloren. Die Zwangsmaßnahmen, die die Wiederbelebung verhindert haben, sind noch in Kraft (Man braucht mindestens zwölf Personen, um einen Verein zu gründen, in Frankreich sind es lediglich drei). Wenn man seit einer Woche in diesem selbstbestimmten utopischen Dorf zwischen den Bäumen spazieren geht, kann man zahlreiche Vereins- und Gewerkschaftszelte des sogenannten türkischen „progressiven Camps“ sehen.
 
Auch wenn diese Bewegung jederzeit enden kann, werden der Taksim-Platz und der Gezi-Park zu Symbolen für viele Türken. Für Melda, eine Kommunikationsstudentin, stellt diese Bewegung einen Umbruch dar: „Davor hatte ich Angst, zu demonstrieren und alleine zu sein. Jetzt muss ich da sein – ich kann nicht zu Hause bleiben während wir vielleicht eine der einzigen Möglichkeiten haben, etwas zu verändern.“ Das ist vielleicht die schönste Seite dieser Bewegung: Sie hat in den den türkischen Jugendlichen Einsatzbereitschaft entfacht und ihnen Hoffnung auf einen Wechsel gegeben.

Übersetzt von Christiane Ngue 

Notez